Globale Potenziale für Ökostrom und PtX
Wenn Deutschland zukünftig klimaneutral werden will – und das mit einer weiterhin starken industriellen Wertschöpfung im Land – werden wir auch künftig Energie importieren müssen. CO2-neutraler Wasserstoff und seine Folgeprodukte machen es möglich, erneuerbare Energie aus jedem Winkel der Welt einzuführen. Denn vielerorts ist das Potenzial zur Erzeugung von Ökostrom aus Wind und Sonne viel größer als hierzulande. Da die möglichen Energiemengen an vielen Erzeugungsstandorten nur teilweise zur eigenen Energieversorgung benötigt werden, bietet es sich an, die klimaneutrale Energie dorthin zu transportieren, wo sie gebraucht wird.
Deutschland importiert derzeit rund 70 Prozent seiner Energie. Der notwendige Ausbau von Wind- und Solarkraftanlagen wird diesen Anteil in den kommenden Jahren zwar möglicherweise sinken lassen – energieautark wird Deutschland auf absehbare Zeit jedoch nicht werden. Dafür ist das Verhältnis zwischen dem Energieverbrauch unserer dicht besiedelten Industrienation und den Möglichkeiten zur Gewinnung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu ungünstig.
Konkret: Der Wind weht unzuverlässig, die Sonne scheint nur ab und zu und die zur Verfügung stehenden Flächen für Windkraft- und Solaranlagen sind, zumindest an Land, sehr begrenzt. Selbst unter optimalen Bedingungen ist also ein zusätzlicher Importbedarf zu erwarten. Hinzu kommt, dass die erneuerbare Stromerzeugung in Deutschland aus den genannten Gründen deutlich teurer bleiben wird als an anderen Standorten in der Welt. Das ist insbesondere für die hiesige Industrie im globalen Wettbewerb ein systematischer Standortnachteil.
STROMNACHFRAGE HÖHER ALS ERWARTET
Erneuerbare Energien sollen im Jahr 2030 insgesamt 65 Prozent des deutschen Bruttostromverbrauchs decken. So sieht es das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) von 2021 vor. Da die Stromnachfrage besonders durch die Verschärfung der Klimaziele für 2030 voraussichtlich stark steigen wird, erfordert das Erreichen des 65-Prozent-Anteils einen noch schnelleren Ökostromausbau in Deutschland als bislang geplant. Zentrale Treiber der höheren Nachfrage sind vor allem die steigende Zahl von Elektrofahrzeugen und Wärmepumpen-Heizungen sowie die nationale Erzeugung von CO2-neutralem Wasserstoff insbesondere für den industriellen Einsatz, wie sie laut Nationaler Wasserstoffstrategie geplant ist.
WELTWEITE POTENZIALE ZUR ÖKOSTROMERZEUGUNG NUTZEN
Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, die Ökostromproduktion gewissermaßen „auszulagern“: In wind- und sonnenreichen Gegenden kann weltweit mittels erneuerbaren Stroms per Elektrolyse grüner Wasserstoff erzeugt werden, der dann als Energieträger direkt oder weiterverarbeitet exportiert wird. Solche sogenannten Power-to-X(PtX)-Produkte wie CO2-neutraler Wasserstoff und seine Folgeprodukte, bspw. Methanol oder aus Wasserstoff und CO2 hergestelltes synthetisches Rohöl, lassen sich einfacher speichern und transportieren als der Strom selbst.
Weltweit gibt es zahlreiche Regionen, die sich für die Gewinnung erneuerbarer Energie besser eignen als Deutschland. Das verdeutlichte auch die bereits 2019 vom Weltenergierat beauftragte Studie „Internationale Aspekte einer Power-to-X-Roadmap“.
Wie groß die jeweiligen Erzeugungspotenziale im Detail sind, zeigt der erste globale PtX-Atlas, den das Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE im Sommer 2021 vorgelegt hat. Zur Bewertung der technischen und ökonomischen Potenziale wurden dabei verschiedene Analysen – etwa der Flächenverfügbarkeit und der Wetterbedingungen – vorgenommen. Auch Faktoren wie die lokale Wasserverfügbarkeit, der Naturschutz, die Investitionssicherheit oder die Transportkosten fanden Berücksichtigung.
PTX-ATLAS: ENORME POTENZIALE FÜR WASSERSTOFF UND POWER-TO-LIQUID
Die Forscher kommen in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass sich außerhalb Europas mit Windkraft- und Photovoltaik(PV)-Anlagen langfristig insgesamt etwa 109.000 Terawattstunden CO2-neutraler Wasserstoff beziehungsweise 87.000 Terawattstunden synthetische Kraft- und Brennstoffe (Power-to-Liquid, kurz PtL) pro Jahr herstellen ließen.
Dieses Gesamtpotenzial könne realistischerweise jedoch nur zum Teil erschlossen werden – unter anderem, weil es mancherorts an der notwenigen Investitionssicherheit oder Infrastruktur mangele. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen kommen die Forscher immer noch auf ein Potenzial von 69.100 Terawattstunden grünstrombasiertem Wasserstoff beziehungsweise 57.000 Terawattstunden regenerativen PtL-Produkten jährlich. Zur besseren Einordnung: Für die globale Luftfahrt würden 2050 insgesamt mindestens 6.700 Terawattstunden, für den weltweiten Schiffsverkehr 4.500 Terawattstunden PtL benötigt.
770 TERRAWATTSTUNDEN FÜR DEUTSCHLAND
Rechnet man die zur Verfügung stehenden Mengen nach dem heutigen Anteil an der Weltbevölkerung auf Deutschland herunter, so stünden demnach 770 Terawattstunden Wasserstoff beziehungsweise 640 Terawattstunden PtL jährlich für die Energieversorgung hierzulande zur Verfügung. Das würde laut Fraunhofer-Institut genügen, um den verbleibenden Brenn- und Kraftstoffbedarf zu decken – vorausgesetzt, Energieeffizienz und direkte Stromnutzung hätten jederzeit absoluten Vorrang. Damit das realisiert werden könne, müsse darüber hinaus der erforderliche schnelle Ausbau der nationalen Wind- und Solarstromerzeugung gelingen.
WASSERSTOFF ODER POWER-TO-LIQUID: ENTFERNUNG ENTSCHEIDET
Die Fraunhofer-IEE-Untersuchung zeigt außerdem: Es sei oft wirtschaftlicher, flüssige Energieträger, also PtL, für den europäischen Markt direkt dort zu produzieren, wo auch der CO2-neutrale Wasserstoff erzeugt wird. Denn diese Syntheseprodukte seien deutlich kostengünstiger zu transportieren. Damit Wasserstoff über lange Distanzen verfrachtet werden könne, müsse er verflüssigt werden, was zusätzliche Energie benötige und damit Kosten verursache. Das zur PtL-Herstellung notwendige CO2 könne an den entsprechenden Standorten mittels Abscheidung aus der Luft gewonnen werden.
Anders sehe es jedoch aus bei näher gelegenen Standorten, etwa in Nordafrika oder Windkraftanlagen in der Nordsee. Von dort aus könne CO2-neutraler Wasserstoff relativ kostengünstig per Pipeline nach Europa bzw. Deutschland gebracht werden.
GLOBALE WIN-WIN-SITUATION DURCH PTX
Dass die Entwicklung eines globalen PtX-Marktes unterm Strich jedoch eine globale Win-win-Situation schaffen könnte, hat bereits 2019 eine Studie gezeigt, die von Frontier Economics und dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) erarbeitet wurde. Der Aufbau neuer Industrien und Exportmöglichkeiten biete künftigen PtX-Erzeugerländern demnach große Chancen. Dies gelte gerade für entwicklungsbedürftige Regionen, aber auch für Schwellenländer sowie Staaten, die gegenwärtig noch fossile Energieträger ausführen.